Popper: Falsifikation und Metaphysik

Popper: Die Quantentheorie und das Schisma der Physik. S. 229 ff.

Kapitel 27: Offene Probleme

„Anders als früher denke ich nicht mehr, daß in diesem äußerst wichtigen Punkt zwischen Wissenschaft und Metaphysik ein Unterschied besteht. Eine metaphysische Theorie sehe ich nun ähnlich wie eine wissenschaftliche. Zweifellos ist sie unbestimmter und in vieler Hinsicht schwächer, und ihre Unwiderlegbarkeit, ihr Mangel an Prüfbarkeit, ist ihr größter Fehler. Aber, solange eine metaphysische Theorie rational kritisiert werden kann, wäre ich gewillt, ihren impliziten Anspruch, versuchsweise für wahr genommen zu werden, ernst zu nehmen. Und ich wäre bereit, vor allem diesen Anspruch zu erwägen und sie danach zu beurteilen, – zuerst prüfend, wie interessant sie vom Theoretischen her ist, und ihrer praktischen Brauchbarkeit (im Unterschied zu ihrer Fruchtbarkeit als Forschungsprogramm) dabei nur ein sekundäres Interesse schenkend. Wichtig mag praktische Verwendbarkeit oder Wertlosigkeit vor allem dann sein, wenn das so etwas wie ein Wahrheitstest ist, – so wie das bei einer wissenschaftlichen Theorie oft der Fall ist.

Aber ist es denn möglich, eine Theorie rational zu beurteilen oder zu bewerten, die unwiderlegbar ist? Worin liegt der Sinn, eine Theorie rational zu kritisieren, wenn wir doch von Anfang an wissen, daß sie weder mit reinen Vernunftgründen widerlegbar noch anhand von Erfahrungen prüfbar ist?

Meine Antwort darauf ist: Wenn eine metaphysische Theorie eine mehr oder weniger alleinstehende Behauptung ist, wenn sie nicht mehr ist als eine Ahnung oder ein Einfall, der uns mit seinem »nimm oder laß mich« kommt, dann mag eine rationale Diskussion wohl unmöglich sein. Dasselbe würde aber auch für eine »wissenschattliche« Theorie gelten.

[…]

Anders ausgedrückt: jede rationale Theorie, ganz gleich ob wissenschaftlicher oder metaphysischer Art, ist nur deshalb rational, weil sie in einem Zusammenhang mit etwas anderem steht, weil sie ein Versuch ist, bestimmte Probleme zu lösen; und nur in bezug auf die Problemsitnation, mit der sie zusammenhängt, kann sie rational diskutiert werden. Jede kritische Diskussion einer Theorie wird in erster Linie darin bestehen zu prüfen, wie gut sie ihre Probleme löst; wieviel besser sie sie löst als die diversen konkurrierenden Theorien; ob sie nicht Schwierigkeiten erzeugt, die größer sind als die, die zu beseitigen sie angetreten war; ob die Lösung einfach ist; wie fruchtbar sie dabei ist, neue Probleme und neue Lösungen ins Spiel zu bringen; und ob es nicht vielleicht doch empirische Prüfungen gibt, die sie widerlegen könnten.

Diese letzte Methode, eine Theorie zu diskutieren, ist natürlich auf metaphysische Theorien nicht anwendbar. Aber die anderen Methoden kann man gut anwenden, und deshalb ist bei manchen metaphysischen Theorien die kritische Diskussion möglich. (Es kann natürlich andere metaphysische Theorien geben, die man nicht rational diskutieren kann.)

[…]

In dieser Weise, denke ich, kann mein Traum diskutiert werden, und besonders eben dadurch, daß man ihn mit den konkurrierenden Ansichten vergleicht, die er ersetzen soll.

[…]

Ohne mich nun einer Art Pragmatismus oder Instrumentalismus verschreiben zu wollen, möchte ich für mein Programm die Frage der Fruchtbarkeit als ganz entscheidend herausstellen. Wenn es zu keinen neuen Problemen führte oder nicht wenigstens zu einer Neubewertung einiger der offenen großen alten Probleme, würde ich mein Programm als einen schönen Traum verwerfen (ich fand ihn schön), und er ist schön, doch in solchen Träumen soll man nicht schwelgen.

Ich möchte jetzt nicht die Liste der bekannten offenen Probleme der Theorie der Materie anführen (wie das der elektrischen Ladung oder das der Ableitung des Pauli-Prinzips) und keine der allgemeinen Kosmologie, die vielleicht (so träume ich) eines Tages im Lichte der Metaphysik des Wandels, zu der ich hier Anregungen gegeben habe, angegriffen werden. Doch ein Problem muß noch hervorgehoben werden, weil es von größter Dringlichkeit ist: das ist das Problem der großen und noch immer wachsenden Zahl von Elementarteilchen. Einst war es das Programm der modernen Atomtheorie, die große Zahl von Atomen mit Hilfe von nur zwei Fundamentalteilchen zu erklären, dem Elektron und dem Proton. Es war der Augenblick ihres größten Triumphs, als dieses Programm zum Zuge kam, ein Programm, das nun in Trümmern liegt. Vor langem schon begannen die Schwierigkeiten, und zwar mit der Ad-hoc-Hypothese des Neutrinos. Sie wurde ad hoc eingeführt, um einem Debakel zu entgehen, was im Fall einer sehr erfolgreichen Theorie ein seriöses Verfahren ist, seriös, solange es noch Hoffnung gibt, diese Ad-hoc-Annahme eines Tages unabhängig prüfen zu können. Wenn ich mich nicht irre, ist diese Hypothese aber immer noch ad hoc, ganz so wie vor dreißig Jahren. Das Neutrino ist allerdings ein kleiner Fisch, verglichen mit all jenen anderen Teilchen, speziell den verschiedenen Mesonen, die seither aufgrund zwingender Nachweise eingeführt werden mußten; denn diese weiteren Teilchen erschütterten die Auffassungen von der Struktur der Materie, wie sie bis dahin Grundlage der Quantentheorie waren. Zugegeben, diese Ansichten waren kein Teil des mathematischen Formalismus, aber nichtsdestoweniger waren sie ein Teil der physikalischen Theorie.

[…]

Die Wissenschaft braucht diese Bilder. Sie sind es, die weitgehend ihre Problemsituation bestimmen. Ein neues Bild, eine neue Art, die Dinge zu sehen, eine neue Interpretation können in der Wissenschaft die Lage von Grund auf verändern (wie nach Einsteins Sichtweise der Lorentz-Transformation). Aber diese Bilder sind nicht nur vielbenutzte Werkzeuge bei wissenschaftlichen Entdeckungen, sie führen uns nicht nur zu Entdeckungen, sie helfen uns auch zu entscheiden, ob eine wissenschaftliche Hypothese ernstgenommen werden muß, ob die Möglichkeit einer Entdeckung in ihr steckt und ob sie zu akzeptieren sich auf die wissenschaftliche Problemsituation und möglicherweise auf das Bild selbst auswirkt.

Hier können wir vielleicht auch ein Abgrenzungskriterium finden, das innerhalb der Metaphysik zwischen rational wertlosen und solchen metaphysischen Systemen unterscheidet, die der Diskussion und des Nachdenkens wert sind. Das angemessene Streben eines Metaphysikers ist es, so möchte ich sagen, alle wahren Aspekte der Welt (und nicht nur die wissenschaftlichen) zu einem einheitlichen Bild zusammenzutragen, das ihm und anderen zur Aufklärung dient und das eines Tages Teil eines noch umfassenderen, besseren und wahreren Bildes werden könnte. Das Kriterium wird nun grundsätzlich dasselbe sein wie in den Wissenschaften. Ob ein Bild des Nachdenkens wert ist, das hängt, möchte ich sagen, von seiner Fähigkeit ab, rationale Kritik zu provozieren und zu Versuchen anzuregen, bei denen es von Besserem verdrängt wird (und nicht etwa von seiner Fähigkeit, eine Mode zu kreieren, die alsbald von einer neuen Mode verdrängt werden wird, oder gar von Ansprüchen, originell oder endgültig zu sein). Und dieses Kriterium, denke ich, kann uns auch noch auf einen der charakteristischen Unterschiede zwischen Kunstwerken und Werken der Wissenschaft oder Metaphysik hinweisen: nur ein Kunstwerk stellt den Anspruch, etwas zu sein, das auf seine Weise nicht verbessert werden kann.